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Die Türkei als Erzählung meiner Jugend

Im Hintergrund der Forschung steht ein persönliches Verhältnis zur Türkei, welches sich über Jahrzehnte meines Lebens entwickelt hat. Meine Annäherung an die Türkei vollzog sich in verschiedenen Phasen und begann, als ich noch ein Kind war.

Als `Diplomatenkind´ lebte ich insgesamt fast 7 Jahre in Iskenderun, Ankara und Istanbul. Aus meiner vertrauten Umgebung herausgerissen, alle zwei Jahre in diesem fremden Land an jeweils neuem Ort, war eine Selbstbehauptung nicht leicht für mich. Meine Eltern hatten mich 1957 im Alter von fast 10 Jahren überhaupt nur deshalb nach Iskenderun mitgenommen, weil eine Erkrankung noch nicht voll ausgeheilt war. Ich wurde von meinem Bruder getrennt, den meine Eltern in einem Internat zurückließen. Erst in Ankara besuchte ich nach zweijähriger Pause wieder eine Schule, zusammen mit Kindern von anderen Botschaften. Von 1962 bis 1964 war mein Vater Vizekonsul in Istanbul. Ich ging dort in das deutsch-türkischen Gymnasiums, das `Alman Lisesi´. In Istanbul begann ich mit wachsender Bewegungsfreiheit, ein selbstständiges Verhältnis zu meiner türkischen Umgebung zu entwickeln. Doch als mein Vater eine Berufung nach Warschau annahm, wurde diese Entwicklung unterbrochen. Ich entschloss mich, meine Eltern zu verlassen und in Deutschland Abitur zu machen. 

Nach dem Leben in Istanbul fand ich mich in Deutschland zunächst nicht zurecht. In Deutschland war ich nicht zuhause und im Internat schon gar nicht. Allmählich gelang es mir aber, in Deutschland eine Heimat zu begründen. Doch die Beziehung zur Türkei ließ mich nicht los. Ich begriff, dass ich die Chance, dieses Land kennenzulernen, überhaupt noch nicht genutzt hatte. Deshalb suchte ich nach dem Studium berufliche Aufgaben, akquirierte Stipendien, warb schließlich Forschungsgelder ein, die mich wieder in die Türkei führten. Ich ging nun auf eigene Initiative zur Arbeit und Forschung in die Türkei und bereiste das Land, lebte in Bonn und in Istanbul und Ankara.  

Allen Erkenntnissen, die ich gewinne, wie immer sie ausfallen, liegt eine emotionale Verbindung zu diesem Land und seinen Menschen zugrunde.

Wie wurde sie begründet? Erste Eindrücke haben mich geprägt, es sind Wahrnehmungen, wie man sie als Kind macht und wie sie als Erinnerung weiterleben. Sie sind unreflektiert, Vor-Urteile, aber sie gehören zu meinem Bild der Türkei und sie erwärmen alle später gewonnenen Einsichten. 

ISKENDERUN Im Jahre 1957 schifften meine Mutter und ich uns in Venedig ein, um meinem Vater nach Iskenderun zu folgen. Eines Tages erschien im Morgengrauen die Silhouette der Kılıc Ali Paşa-Moschee vor dem Bullauge unserer Kabine. Das Schiff manövrierte vor dem Kai des Istanbuler Zollgebäudes in Karaköy. Wir hatten noch nie eine Moschee gesehen und meinten, in der Märchenwelt von `Tausend und einer Nacht´ angekommen zu sein. 

Die `Ankara´, ein Kargoschiff der Levantelinie, brachte uns weiter nach Iskenderun. Zu meinem Geburtstag auf dem Schiff schenkte mir die Mannschaft eine `Ankara´ aus Zuckerguss, ein Meisterwerk des Schiffskochs.

Auf unserem Schiffsbillett war als Zielort noch `Alexandrette´ eingetragen, der Name, den die Franzosen der Stadt und der Provinz bei der Landverteilung nach dem I. Weltkrieg gaben. Kemal Paşa (Atatürk) erreichte erst 1939 die Eingliederung der Provinz Hatay ins türkische Staatsgebiet. Nach dem Vertrag von Lausanne war dies das einzige Bemühen des Staatsgründers um Erweiterung der Türkei um ehemals besetztes Land. Atatürks Außenpolitik unterstand der Devise `Yurtta Sulh , Cihanda Sulh´, `Frieden im Land, Frieden in der Welt´. Ich wusste aber noch nichts von türkischer Vergangenheit und den politischen Spannungen beim Aufbau der Republik und auch nichts von deutsch-türkischer Geschichte. Das Konsulat in Iskenderun war ein Überbleibsel aus der Verbindung der bis 1945 kriegsneutralen Türkei mit dem NS-Regime, das das Konsulat aus strategischen Gründen am Golf von Iskenderun eingerichtet hatte.  

Wir wohnten in einem Haus an der Hafenbucht. Am Morgen galt mein erster Blick dem blauen Golf, am Horizont bei klarem Wetter gesäumt von den zackigen Gipfeln des Taurusgebirges. Den Winter konnten wir dort nur ahnen, wenn diese Gipfel ab Oktober weiße Kappen trugen. Unter meinem Fenster blühten zu Weinachten rote Rosen, dahinter am Strand schritten gravitätisch die Gänsegeier.

Hinter unserem Haus ragten die Felsen des Amanosgebirges steil auf. Im Herbst rollten gewaltige Donner dort herab und der Fallwind, Yarıkaya (Spaltfelsen) genannt, peitschte das Meer zu weißen Wogen auf. Im Sommer lastete erdrückend feuchte Hitze über dem Golf. Der Aasgeruch vom Strand, der Tierdunst von Pferden und Eseln, der Geruch von fauligem Salzwasser und dem Schiffsdiesel am Hafen vermischte sich überall mit dem Duft von Jasmin, Geißblatt, Bougainville, Oleander. Ausflüge in das Stadtzentrum machten wir mit der Pferdekutsche, `Fayton´, das war das ortsübliche `Taxi´. Hufklappernd ging es den mit Palmen gesäumten `Kordon´, die Uferpromenade, am Meer entlang und dort kehrten wir abends fast täglich in `unser´ Restaurant, den `Sonnenpalast´ ein. Bevor wir schließlich über den Alexanderpass durch Hatay nach Aleppo und nach Damaskus und Beirut reisten, lernten wir die arabische Welt geschmacklich kennen: Das Tränen treibende Muhammara, (das rote Nussöl frisch gepresst!), den weiss-cremig geschlagenen Hummus bi Tahin, das klebrig-süsse Künefe. Hier am Meer folgte natürlich gegrillter Fisch. Mein persönlicher Höhepunkt war ein Cocktail aus Wildgarnelen. Dass aber Musik in noch tieferer Erinnerung als Anblicke, Gerüche und Geschmäcker weiterlebt, merkte ich erst Jahrzehnte später. Ich hörte durch Zufall Om Kalsoum, die `arabische Nachtigall´ und mir kamen zu meinem Befremden die Tränen. Von den Lauten, die mich damals umgaben, hat sich mir in diesen ersten Jahren in der Türkei auch noch eine andere `Melodie´ eingeprägt. Das war die Sprachmelodie, die kannte ich, bevor ich schließlich später fließend sprechen konnte. Bis heute ist an der Aussprache zu hören, dass ich schon als Kind in der Türkei war.

Meine Eltern lebten sich in Iskenderun rasch ein. Sie trafen auf die kosmopolitische Gesellschaft einer türkischen Küstenstadt. Man sprach damals überall in der Türkei im städtischen Milieu Französisch, nicht nur im ehemaligen Alexandrette. Zu engsten Freunde wurden Orhan und Mary – ein türkisch-amerikanisches Ehepaar, der Baumwollmagnat Mehmet Amca (Onkel Mehmet, so nannte ich ihn) mit seiner Frau Nürveyre aus der Ҫukurova, der Levantiner Giovanni und unser Zahnarzt Dr. Belouni. Die türkischen Offiziere der Marineeinheit vor Ort veranstalteten opulente Galadinées, und meine Mutter zog zu diesem Anlass – ein Mitbringsel aus der Weltstadt Beirut – Netzstrümpfe mit Naht an. Ich musste den Sitz der Naht kontrollieren, während meine Mutter sich schminkte und französische Wendungen übte. 

Wir fuhren oft an einen kleinen Strand bei Arsuz. Ein Feldweg führte dorthin durch die Vorgebirgslandschaft, die im Frühjahr üppig erblühte. Ich pflückte dort Anemonen und Alpenveilchen von strahlenden Farben, so viele meine Hände umfassen konnten. Vergeblich hoffte ich, dort einmal einen Schakal oder eine Hyäne zu sehen, aber ich konnte Hyänen lachen hören, wenn ich über einem Aas die Geier kreisen sah. Überall wo Wasser war, wucherte eine überwältigende Pflanzenvielfalt. Zwischen Schilf ragten manchmal Hörner hervor, ich entdeckte Augen und Nüstern und ich wartete, bis sich aus dem Schlamm ein Wasserbüffel erhob, auf dessen Rücken sich sofort spitzschnäblige Vögel niederließen, um Insekten abzupicken. 

 Den geradezu subtropischen Sommer konnte man nur in den Bergen aushalten. Oberhalb eines kleinen Dorfes trug mich mein Vater bei größter Hitze die letzten der achtzig Stufen hoch zu dem kleinen Haus unseres levantinischen Freundes. Wir schliefen im Haus, aber wohnten auf der säulengeschmückten Terrasse. An manchen Tagen blickte man von dort über den Golf bis nach Zypern. Am Berghang wohnten wir zusammen mit den erstaunlichsten Tieren. Aus dem Weinlaub über der Terrasse fielen abends im Licht riesengroße Käfer. Vorsicht war beim Schuhe anziehen geboten, Skorpione konnten dort hineingeschlüpft sei. Aber nicht nur die Skorpione waren wehrhaft. Gottesanbeterinnen bissen die aufdringliche Katze in die Nase. Neben der Wassertonne oben unter dem Dach blinzelte ein Käuzchen nur kurz, wenn wir morgens in die Küche kamen. Nachts vertrieb mein Vater das Käuzchen mit einem Besen von dem Stromkabel zum Haus, es weckte uns regelmäßig mit seinem lauten Rufen. Eidechsen waren überall an den Fliegenfenstern. Hier am Berg erschienen abends auf der Terrasse kleine Drachen, eine besondere Art von Echsen mit hohem gezackten Rücken. 

Im Herbst kreisten hunderte von Störchen mit ausgebreiteten Flügeln im Aufwind über dem Dorfhang. Nach der Ruhepause zogen die großen Vögel dann weiter über den Golf. 

 Wenn vom Dach des Lehmhauses am Fuß der Treppe der Duft von Şebit (Weizenflachbrot) aufstieg, schickte bald darauf die Großmutter der Familie Ҫelik ihre zehnjährige Enkelin mit einem Körbchen mit dem Brot direkt vom heißen Backstein und Granatäpfeln und Mandeln zu uns herauf. Eines Tages hörte man von dort unten heftiges Schluchzen. Die kleine Ayşe wurde verheiratet. Es hieß, das Weinen sei ein Teil des Hochzeitsbrauchs. Das Mädchen wurde weiß verschleiert in rotbunter Tracht auf einem Schimmel zum Haus des Bräutigams geführt. Der Schimmel war mit vielen blauen Boncuk (Amulette gegen den bösen Blick) geschmückt und vor ihm her trugen der Vater und der Bruder einen Spiegel zur Abwehr böser Geister. Ich war tief beunruhigt. Wie viele Gesichter hatte die Türkei? 

Weil ich noch immer nicht gesund war, ging ich nicht zur Schule und meine Mutter und Freundin Mary unterrichteten mich so gut es ging. Ich las alles, was mein Vater aus der deutschen Buchhandlung in Istanbul mitbrachte, die Orientmärchen von Elsa Sofia Kamphövener ebenso wie `Die Schwammtaucher des Mittelmeeres´ oder `Schmetterlinge und Raupen Südosteuropas´. Karl Mays Türkeibild mochte ich nicht, verschlang aber alle Bände, auch die Bücher meiner Eltern, wie der `Tiger von Eschnapur´ oder `Mord im Orientexpress´.

 Meine Eindrücke vermischten sich mit dem Gelesenen und mit den Erzählungen meiner Eltern über Geschichten und Mythen der Türkei. Vom Felsen des Jona aus sah ich den Jona zwischen glänzenden Barteln des Wals verschwinden. Wir picknickten in der Nähe des Walfelsens auf dem Schlachtfeld von Issos (beim heutigen Payas) und ich glaubte dort die funkelnden Bronzehelme der Griechen zu sehen, die gegen den Perserkönig Darius antraten. Antike Geschichte war überall. Im azurblauen Meer bei Arsuz wohnten die Seeigel in Amphorenscherben unter den Mauern einer versunkenen Stadt. In meinen Träumen erhoben sich Mauern und Türme aus dem Wasser, so als sei die Stadt bloß im Bewusstsein der Menschen verdrängt gewesen. Den Sümpfen entstiegen riesige Elefanten mit einer Haut so grau und schründig wie die der Wasserbüffel. Trompetend schritten sie vor dem Sichelwagen des Darius her in die Schlacht von Gaugamela.

Das waren meine Phantasien und das war Iskenderun.

ANKARA Ankara war eine andere Türkei. Bevor ich dort hinkam, musste ich erst gesund werden. Und dazu fuhr ich nun selbst mit dem Orientexpress. im Rhythmus der Räder, rußgeschwärzt vom Dampf der Lok, brausten meine Mutter und ich quer durch die wilden schönen Landschaften der Türkei nach Istanbul und von dort aus für 6 Monate nach Deutschland.

In Ankara wohnten wir dann in steingewordener deutsch-türkischer Geschichte, einer kleinen Gartenvilla im in den dreißiger und vierziger Jahren in Ankara eingeführten `Style Cubique´ (türkisch:kübik). Die Architektur der neuen Hauptstadt war geprägt von deutschsprachigen Architekten und Städteplanern, viele Emigranten waren darunter. Ich war also im Sinne des Wortes mittendrin in der Nachlassenschaft von deutschen Emigranten, lange bevor ich von ihnen wusste.

Nach dem I. Weltkrieg hatten Kemal Pasa und die Befreiungsarmee die Aufteilung des Landes unter die Siegermächte verhindert. Noch vor der Ausrufung der Republik im Jahre 1923 verlegte er die Hauptstadt von Istanbul in die Mitte des Landes, in die Kleinstadt Ankara. Unter dem Motto `Modernisierung und Nationalisierung´ sollten die Bauten der neuen Hauptstadt ein Modell für die Reformprojekte der Republik werden und zur Durchführung dieses Vorhabens wurden Fachleute aus Österreich und Deutschland berufen. Nicht nur die Funktions- und Repräsentationsbauten sondern auch die Wohnhäuser sollten dem Motto entsprechen und die deutschen Architekten und Stadtplaner sollten nicht nur Prinzipien des modernen Bauens in der Türkei einführen, sondern damit zugleich intellektuelle Führer eines neuen Zusammenlebens sein. So wohnten wir in einer nach dem Konzept der deutschen `Gartenstadt´ gestalteten Siedlung in einem Haus gebaut im sachlichen Stil des Neuen Wohnens. Das neue Ankara war damals noch eine Art offener Bauhausausstellung mit verschiedenen Stilprägungen, wie sie die Architekten und ihre türkischen Kollegen und Nachfolger dort entwickelt hatten.

Auch mein Leben nahm gewissermaßen `kübik´-Form an, d.h. es war nun wieder sachlich geregelt durch den Schulalltag. Ich ging in die Botschaftsschule und musste die schulfreien Jahre aufholen: Nach einem Jahr schlug der Klassenlehrer vor, ich solle eine Klasse überspringen. Ich wollte nicht, war mir doch nach und nach gelungen, in den Klassenverband aufgenommen zu werden. Ich war nicht so kräftig wie die anderen Kinder und mein Einstieg in das Spielen auf dem Schulhof war ein Einstieg im Sinne des Wortes: Nach vielen Versuchen gelang mir endlich das Hineinspringen in das von zwei Kindern geschlagene Springseil. 

In Ankara kam ich dem Land näher und blieb doch fern, denn ich lebte in einer geschlossenen Gesellschaft. Von türkischer Politik erfuhr ich nur einmal, als das Rollen von Panzern bis zu uns in Kavaklıdere zu hören war: Das Militär hatte gegen den autoritären Ministerpräsidenten Adnan Menderes geputscht und ich musste deshalb nicht in die Schule.

 Die Botschaft in Ankara war eine Insel im türkischen Umfeld, ein Park mitten zwischen den Parks der anderen Botschaften, mit Büro- und Wohngebäuden, Nutz- und Ziergarten, Schwimmbad und Tennisanlage, auf dem Rasen weideten manchmal die Reitpferde des Botschafters. Die türkische Gesellschaft war nicht einbezogen in den Botschaftsklüngel. 

Meine Eltern wollten damit möglichst wenig zu tun haben, es gelang ihnen aber nicht, über den Botschaftskreis hinaus Kontakte zu unterhalten. Der einzige türkische Besucher der häufig zum Tee kam, war Dr. Selahattin, unser Tierarzt. 

Wir waren etwa 100 Kinder in der Schule, die meisten aus Familien anderer Botschaften. Mein erster Verehrer war Dŭsan, der Sohn des jugoslawischen Botschafters. Den beachtete ich nicht. Meine Freundin Elis und ich schufen uns eine eigene Jungmädchenwelt. Wir bewunderten die amerikanische Teenagekultur wie sie die älteren amerikanischen Mädchen in der Schule vorführten. Der Kleidungscodex sah weitschwingende Popelinkleidern vor, aus denen gestärkte Petticoats hervorlugten, dazu gehörten schwarzweiße Sneaker und `bobbysocks´, weiße Baumwollsocken. Ankara war damals bevölkert von amerikanischen Militärs. Mit Gazoz-Limo und Gofretwaffeln ausgestattet, strolchten Elis und ich durch die Straßen von Kavaklıdere (das neue Ankara) um verstohlene Blicke auf die jungen Soldaten zu werfen und vor allem aber um festzustellen, ob sie uns bemerkten. Oder waren wir doch noch bloß Kinder? Das Zentrum unserer Welt war die Musik. Türkische Händler verkauften gebrauchte Schallplatten mit amerikanischen Hits der 40 und 50er Jahre. Mein Bruder kam aus Deutschland und brachte mir Rock´n Roll bei und Elis und ich tanzten zu `Bebop a-Loula´, `Sweet Little Sixteen´. Sogar meine Mutter ließ sich von unserer Begeisterung anstecken und hörte gern `Wake Up, Little Susie´, aber lieber noch Pat Boone und besonders Elvis. 

In Ankara blieb die Türkei vor der Tür. Schon der Stadtteil Ulus (das alte Stadtzentrum) und die Altstadt, überragt von einem imposanten Burgberg, waren für mich weit weg. Dort bei der Markthalle besuchten wir manchmal einen Kebapçı, der das köstlichste Lammfleisch vom Grill anbot. Wildschwein war in Ankara auch zu haben, die ausgeweideten Tiere hingen im Winter im Schulhof, geschossen für die `gavur´(die Ungläubigen), aufgeklappt für die Trichinenschau. 

Die Bauern am Burgberg bekamen `gavur´, wie wir es waren, nur selten zu sehen. Dort war das Provinzzentrum mit den Märkten für den anatolischen Landhandel, Nabelschnur für die rasch wachsende Stadt. Ein Produkt der Region war einst weltweit gehandelt worden: Ankara war einmal berühmt für die Wolle seiner Angoraziegen gewesen.

Auf einem Ölgemälde eines unbekannten Malers aus dem 18. Jahrhundert – es hängt im Reichsmuseum in Amsterdam – sieht man die Ziegenschur in der Steppenlandschaft um den Burgberg.

So ein dem eisigen Winter angepasstes Fell wie die Ziegen kleidete auch die bezaubernden Angorakatzen, weiß in der Zuchtform, aber in den Straßen an den Mülltonnen waren sie überall als bunte Mischlinge zu sehen. Ein solches Kätzchen nahm ich von meinem Schulweg mit nach Hause. Die langen Haare waren so dicht, dass Regen daran abtropfte. Unsere Peti fror nicht, wenn wir im Winter bei -20° C nur im oberen Stockwerk im Bett wohnten, weil die beiden Ölöfen das Haus nicht mehr beheizten. Die Schule blieb da geschlossen, es gab kältefrei, und wir schlidderten so lange auf dem Schulhof, bis unsere Eisbahn spiegelglatt war. 

Unser Gärtner namens `Satılmış´ ging im Winter auf sein Dorf Memlik, er hatte im Sommer bei uns genug verdient. Meine Mutter gab ihm jedenfalls auch Geld, wenn es seinen Angaben nach Notfälle im Dorf gab. Wir wussten nichts von dem Leben in den anatolischen Dörfern. Mit unserem mangelhaften Türkisch bekamen wir nur mühsam heraus, dass der Name des Gärtners `Er ist verkauft worden´ bedeutete. Und noch eine Weile dauerte es, bis wir begriffen, dass man mit dem Namen das Kind bei der Geburt Allah überantwortet hatte, weil man nicht wusste, wie man es ernähren sollte. Unser zweiter Gärtner hieß Durmuş, `Es hat aufgehört´. Der Name sollte das Schicksal der Mutter wenden, die jährlichen Geburten sollten um Himmels Willen endlich aufhören.

Unsere Ausflüge führten uns zu den hethitischen Stätten mit den gewaltigen in Stein gehauenen Löwen, Abbilder der großen Raubtiere, die zu den Zeiten der Hethiter in den Korkeichenwäldern Anatoliens Gazellen jagten.  Einen Sommer verbrachte ich mit meiner Mutter am blaugrauen Schwarzen Meer. In besonderer Erinnerung bleiben dabei die Fahrten durch Anatolien. Eine uns unbekannte Weite tat sich auf: Die Steppe, ein Pastell in allen Schattierungen von rot bis rosa, braun bis ockerfarben und gelb, sich wellendes Grün, getupft mit flammenden Blüten, wenn im Frühling einmal Regenwolken ihre Schatten warfen. Da schweifte die Seele noch über den fernen zartblauen Saum von Taurus oder Pontus hinaus und fand ihre Grenze nur in sich selbst.

Als die Nachbarjungen Gary und David mich in den Teenage-Club einluden und Durmuş uns sein Dorf zeigen wollte, zogen wir nach Istanbul um.

ISTANBUL Der steinerne Koloss, in dem wir in Istanbul wohnten, repräsentierte die Frühzeit der deutsch-türkischen Beziehungen, den Geist des deutschen Kaiserreichs. Kaiser Wilhelm II. verbündete sich in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit Sultan Abdül Hamid II. mit dem Ziel einer `friedlichen Durchdringung´ des Osmanischen Reichs. Deutschland, als `späte Nation´ ohne größere koloniale Erwerbungen trat in der osmanischen Türkei mit paternalischem Gestus auf. Unter dem Motto `Entwicklungshilfe im Sinne der Türkei´ stellte sich Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich in die Reihe der europäischer Großmächte, die den wirtschaftlich bankrotten osmanischen Staat kolonial ausbeuteten, ohne das militärische Machtübernahme notwendig war. Wenn Deutschland im Rahmen seiner `Militärhilfe´ Kruppkanonen in der Türkei installierte, dann konkurrierte das Kaiserreich dabei mit Russland und den europäischen Großmächten um die Vormachtstellung in Kleinasien und dem Nahen Osten auf türkisch-osmanischen Staatsgebiet. Die Auseinandersetzung mündete in den I. Weltkrieg, nach dessen Ende die republikanische Türkei die nationale Unabhängigkeit errang. Enge wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zwischen Deutschland und dem `Waffenbruder´ Türkei blieben aber auch nach dem Ersten Weltkrieg bestehen. Deutschland blieb auch nach 1945 das bevorzugte europäische Partnerland der Türkei und behielt auch angesichts der neuen nationalen Unabhängigkeit seine Haltung eines wohlwollenden Paternalismus gegenüber dem wirtschaftlichen Schwellenland Türkei bei. 

Die kaiserlichen Großmachtsallüren des Deutschen Reichs kamen mir jedenfalls zugute. Die ehemalige Gesandtschaft (nun Konsulat) war auf dem Hügelkamm über dem Bosporus als italienischer Palazzo gebaut. Der sollte groß und mächtig aussehen und hatte 6 Stockwerke. Die obersten Etagen waren für Konsul und Vizekonsul vorgesehen und so wohnte ich mit meinen Eltern und Katze Peti am Hang hoch über dem Bosporus. Es gab noch keine Brücke zwischen Europa und Asien. Über der breiten Wasserstraße sammelten sich die Laute der Stadt wie unter einer Glaskuppel und diese Kuppel war mein Zimmer. Auch Düfte, ja sogar Geschmäcker stiegen die Hänge des Bosporus zu mir auf. 

Von dort oben hatte ich einen phantastischen Blick auf die anatolischen Ufer von Küçük Ҫamlıca bis Moda und bei gutem Wetter bis zur Insel Yassıada im Marmarameer, auf der europäischen Seite bis zur Sarayspitze am Eingang zum Goldenen Horn. Vor mir floss der Bosporus ins Marmarameer. Da bürstete der Südwind, der Lodos das dunkle Blau zu weißen Wellenkämmen hoch. Wolken schlürften die Fluten ein, bauschten sich dunkel über dem Meer. Doch da, ein Wolkenspalt, Silber ergoss sich in breiten Streifen in die Meerenge, rot loderten Fenster am Ufer im Widerschein eines letzten Sonnenstrahls. Der Blick auf den Bosporus war wie ein Blick in ein Antlitz, das ständig wechselnde Launen zeigte. Ich aber schaute nur und empfand nichts.

Täglich saß ich dort oben auf meinem Kissen und vor mir war etwas Riesiges, Lebendiges – die Stadt. Diese Stadt, verteilt auf zwei Erdteile, nur mit Vorsicht zu betreten: Schon was da im Boden war, konnte sprechen. Und erst recht redete das, was sich darüber erhob. Die antiken Bauwerke, alles, was noch stand und was vergraben lag, erzählte von Kampf, von Blut, von Macht, Leidenschaft und Liebe, vom Schöpfergeist vergangener Zeiten, erzählte von Istanbul, der schönsten Stadt der Welt! Das war ein Anspruch, eine Herausforderung. Die Stadt wollte entdeckt werden. Aber ich, ich war am falschen Ort. 

Auch das alltägliche Leben in dieser Metropole war in seiner Vielstimmigkeit, seiner Schrillheit der Farben, der Wucht der Gerüche und Laute, nicht leicht zu entschlüsseln. Die Vielfalt barg Gegensätze, das Leben wirbelte hier in einem Mahlstrom, in den ich nicht geraten wollte.

Da saß ich in meinem Fenster und fühlte mich klein. Ich war vierzehn Jahre alt. Ich hatte mich verändert, ich wurde erwachsen, wollte groß sein. Eigentlich wollte ich eintauchen in dieses Treiben der Stadt. Aber gehörte ich jetzt nicht eigentlich woanders hin? Aber wohin?

Meine Schule war das Alman Lisesi, das deutsch-türkische Elitegymnasium Istanbuls. Der deutsche Direktor war Emigrant gewesen, als Kommunist vor den Nazis in die Türkei geflohen. Den bekam ich selten zu Gesicht. Ich drückte mich auf die hinterste Bank. Die 41 Schüler passten kaum ins Klassenzimmer der 10A. Die Tafel sah ich nur verschwommen. Ich hatte Angst, denn die Lehrer kündigten an, dass meine Schonzeit als Schulneuling bald zu Ende sein würde. Was dann kam, war schnell klar: Ich konnte nicht mithalten. Die meisten Lehrer waren Dompteure, die größtenteils türkischen Schüler lernten den Stoff auswendig und schnippten Papierkügelchen in den Ausschnitt der Englischlehrerin Fräulein Schonk. Ich meldete mich nie. Reni, die blonde Traumfrau der Schule, nahm mich am Wochenende mit zu einem Treff der deutschen Clique der Schule, die spielten Baseball oder Karten und sie mobbten mich, denn ich errötete, wenn mich einer der Jungen ansprach. 

Ich war einsam wie nie zuvor in meinem Leben. So saß ich in meinem Fenster, rauchte `Bafra´ oder `Birinci` und verfolgte den Flug meiner Nachbarn, das waren ein Paar roter Milane aus der hohen Föhre im Garten unter mir . Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mit ihnen über dem Bosporus schweben.

Nachts betete ich: Lieber Gott, schenk mir einen Freund. In dieses nächtliche Wünschen und Warten mischte sich die Stadt ein. Ein dunkles Tuten ertönte, spät, die tiefe Stimme des nächtlichen Inseldampfers, und noch später das hellere Signal der letzten Bosporus-Fähre zum asiatischen Ufer. Und da, ein heiserer Sprechgesang – ein Straßenhändler versprach einen kleinen Rausch mit warmer Boza aus vergorener Hirse. Und da, ein eindringlicher Pfeifton, der Bekci, unser Nachtwächter, machte seinen Rundgang durch unser Viertel. 

 Ich merkte, ich würde sitzen bleiben und das hieß, ich konnte schon vor dem Beginn der großen Ferien alles Lernen fahren lassen. Mina aus meiner Klasse ging es genauso und wir kamen auf die großartige Idee, zu schwänzen und eine Wanderung am Bosporus zu machen. So hatte ich einen Fuß in die Stadt gesetzt, oder besser zwei, zum Wandern – das unbekannte Terrain war betreten. 

In der neuen Klasse bekam ich einen Freund, ein lieber, zärtlicher Junge, der wunderbar nach Semmeln roch. Unser Deutschlehrer war ein kluger Mann und ließ uns neben einander sitzen. Vor uns saßen Selma und Lana, das andere Liebespaar der Klasse. Ich erholte mich von meiner Schüchternheit und die Jungen sangen Rocco Granatas `Marina´ als `Regina, Regina, Regina.´ 

Der Unterricht dauerte oft bis in den späten Nachmittag und wir Schüler vom `Alman Lisesi´ vertrödelten die kurze Freizeit auf der Pera, der berühmten Einkaufs- und Flaniermeile des europäischen Istanbul, probierten Schuhe, aßen Peynirli (Käse)-Toast oder Soft Ice oder suchten Kühlung in der Santa Maria Draperis, eine der Kirchen an der Pera (zur Entsühnung solchen profanen Zwecks zündeten wir immer eine Kerze an). Wenn genug Zeit war, gingen wir in einen der 12 plüschigen Filmpaläste, die die neuesten Filmimporte aus den USA in der Originalfassung zeigten . Wenn `2 für 1` auf den Plakaten stand, ließen wir uns an verregneten Wochenenden in einem gemütlichen Sessel im Kinosaal für Stunden vor der flimmernden Leinwand nieder. Im `Emek´ sprang dann die Kinokatze auf meinen Schoß und ich schlief oft ein. Denn die achtmonatige Schulzeit war Vollzeit und hart. Ich verweigerte mich der Mathematik und musste mich damit quälen. Doch ich lernte, mich in der Stadt zu bewegen und das machte frei. Blickkontakt zu den Autofahrern zu halten, das war die Faustregel für sicheres Durchqueren des Verkehrsstroms. Der stockte nie. Aus dem Strom lösten sich die Sammeltaxis, `dolmuş´, um an strategischen Kreuzungen Kunden aufzunehmen. Auf Fingerzeichen des Kunden am Straßenrand und Rufen des Zielorts öffnete der `şoför´ die Autotür, wenn drinnen noch Platz war. Er hielt aber kaum an, und der Kunde musste sich geschickt hineinschwingen, während sich die Fahrgäste drinnen zusammendrängten. Das öffentliche war Leben hektisch, aber Muße wechselte in einem bestimmten Rhythmus mit Arbeit und Bewegung. Zu jeder öffentlichen Transaktion gab es Tee und Zigaretten und ob mit oder ohne Tee, der öffentliche Raum war angefüllt mit Gespräch, auch wenn es `çat pat´, also mit Händen und Füßen stattfand. Ein Ort solcher vielfältigen Kommunikation war der Kapalı Ҫarşı, der Gedeckte Basar. Da genossen sowohl die Basarhändler als auch ich gleichermaßen das Feilschen um ein begehrenswertes Objekt, das mit meiner scheinbar empörten Ablehnung des Ladenpreises begann und in schönem Einvernehmen mit dem Händler bei Tee und Geplauder endete. Wenn ich einmal Besuchern aus Deutschland die Stadt zeigte, führte ich gern eine Begegnung mit türkischer Gastfreundschaft herbei, denn für mich war das die bemerkenswerteste Attraktion in der doch so reichlich mit glanzvollen Bauwerken versehenen Stadt. Ich erwarb also vielfältige Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit denen ich mir die Stadt aneignete. Die lange Sommerferienzeit machte das möglich. Meine kognitive Landkarte verzeichnet mich an den unterschiedlichsten Orten. So suchte ich Pilze unter dem byzanthinischen Kırazli-Aquädukt im Belgrader Wald oder ich holte `lahmacun´ (scharf gewürzte Teigfladen von Strassenhändlern) im Taksim Parkı (heute Gezi-Park), wenn zuhause mal nicht gekocht wurde. Samstagmittag sang ich im staubigen Schulhof noch zum Wochenschluss brav die türkische Nationalhymne (oder tat nur so), abends tanzte ich mit meinem Vater Foxtrott in der Roofbar vom Hilton, in den Nachtclubs am Bosporus tanzten Bauchtänzerinnen für uns auf dem Tisch oder machten Striptease auf dem Rücken eines Schimmels. Auch bei uns zuhause wurde oft getanzt, meine Eltern kamen der Verpflichtung des Vizekonsuls zur Kontaktpflege mit den kosmopolitischen Szenen Istanbuls allzu gern nach. Wenn sie ausgingen, nahmen sie mich gern mit, aber ich konnte selbst entscheiden, was ich unternehmen wollte. 

Am liebsten war ich in oder auf dem Wasser, meist war der Bosporus das Medium meiner Aktivitäten. Beim Schwimmen am Badehaus der deutschen Sommerresidenz in Tarabya (da hatte ich Schwimmen gelernt) ließen sich meine Mutter und ich uns vom Bosporus ohrfeigen. Morgens war er spiegelglatt. Doch wenn der Schiffsverkehr einsetzte, schlugen uns kleine Wellen kräftig ins Gesicht. Öfter war ich auf als im Wasser, denn der Bosporus war schließlich eine Wasserstraße, die Schiffe waren Verkehrsmittel, die nach Fahrplan fuhren (wie sonst nur die Vorortbahn, das `banliyö´). 

Aber der Bosporus war gefährlich. Schiffsfahrpläne konnten im Frühjahr oft nicht eingehalten werden. Wenn der Lodos von Süden gegen den Strom wehte, setzte der Schiffsverkehr aus. Sogar die Schulordnung berücksichtigte die Wetterlage. Kinder reicher Istanbuler, ab Mai auf den Inseln vor Istanbul in der Sommerfrische, hatten bei Lodos schulfrei.

`Drei Mädels-Wanderungen´ am Bosporus, vom Marmarameer weg in Richtung Schwarzes Meer – von mir als reguläres Vorprogramm zu Ferien organisiert – endeten jedenfalls mit der Rückfahrt auf dem Wasser. Wir wanderten immer ein Stück und fuhren ein Stück mit dem `dolmuş´, bis wir Sarıyer, den letzten Ort vor dem Schwarzmeerfelsen an der kleinen Küstenstraße erreichten. Hier sei ein besonderer kulinarischer Genuss der damaligen Istanbuler Küche erwähnt. Diese Küche war in ihrer Qualität und Vielfalt unvergleichlich und sie wurde auch in den bescheidensten Lokalitäten der Stadt serviert. Wir entdeckten dieses Gericht als `Fischsuppe´ auf einer Speisekarte, als wir einmal die Abfahrt des letzten Bosporusschiffs verpasst hatten. Um nachhause zu telefonieren, ließen wir uns in einem `lokanta´ nieder. Die Suppe duftete nach Safran und schmeckte köstlich. `Die ist bloß aus Fischresten´ meinten die Fischer und verrieten das Rezept nicht. Ich weiß jetzt, es war eine Suppe ähnlich wie die `Bourride´, die auch in Frankreich gekocht wird – von Gourmets häufig höher geschätzt als die berühmte Bouillabaisse. 

Gefährlich war er, der Bosporus und er hätte mich fast eingesaugt. Und das kam so: Für den Sommer mietete mein Vater zwei Bungalows an der nahen Schwarzmeerküste. Dahin kamen auch mein Bruder und seine Freunde aus Deutschland und meine Freunde und Freundinnen aus der Stadt. 

An einem Sommertag ließ ich mich auf den warmen Wellen treiben. Mein Bruder war nur von Weitem am weißen Schaum zu erkenne, den er mit den Schwimmflossen schlug. Ich drehte mich in Richtung Strand. Da war der helle Uferstreifen und der grüne Waldsaum. Ich glaubte, meine Eltern zu erkennen, die Bungalows, es würde bald Tee geben. Das Wasser war ruhig, die Sonne schien mir auf die Schultern. Ich schwamm – und kam doch dem Strand nicht näher!  Ich merkte, wie Angst mich ergriff. War ich in den Sog geraten? Der berüchtigte, nur selten einsetzende Sog, der mich aus der Bucht ins Meer ziehen würde. Weit draußen erfasste dann ein gewaltiger Strom alles, was ihm zugetragen wurde und führte es in den Bosporus. Nur ein mächtiger Felsen trennte unsere Bucht von der großen Wasserstraße. Ich rief meinen Bruder, er kam offenbar auch nicht voran, `schwimm einfach, schwimm´ schrie er. Eine Sekunde entschied, ob ich leben würde. Ich wollte um mich schlagen, schreien, die Angst drohte, mich zu überfluten.  Doch die Panik wich einer plötzlichen eiskalten Ruhe, ich schwamm und ab da weiß ich nichts mehr.

Dann lag ich auf dem Sand, mein Herz raste. Ein Fischer mit einem Strick um den Leib hatte uns geholt und am Ufer war ich zu Boden gegangen.

Ich fürchtete mich zunächst, im Wasser keinen Boden unter den Füssen zu spüren.  

 Als wir später eines nachts endlich schweres Wellenrollen hörten, rannten wir an den Strand. Da waren sie, die weißen Rosse, die schickte uns ein wilder Schwarzmeergott im Spätsommer. Meine beiden Freunde – es waren inzwischen zwei – nahmen mich am Morgen bei der Hand und führten mich an den Strand. Schließlich konnte ich nicht widerstehen, wir drei warfen uns auf die Wellenkämme und wetteiferten, wer am Weitesten ans Ufer getragen würde. Nach den Wellen war das Sonnen dran. Wir rieben einander die salzige Haut mit Olivenöl ein und die Sonne briet uns wie Fische auf dem Grill bis wir glühend wieder in die Wellen tauchten.

So verging ein Sommer. Ich war glücklich in Istanbul und kein Mahlstrom hatte mich verschlungen. Und doch, ich wusste, hier trug mich eigentlich nur ein Unwissen hinweg über Höhen und Tiefen eines Landes und seiner Geschichte, das es eigentlich noch weiter zu entdecken und zu erfahren galt.

Als meine Mutter schon in Deutschland war, gab mein Vater zum Abschied von Istanbul einen Empfang im Parkhotel über dem Bosporus – mit mir an seiner Seite. Ich trug ein weißes Leinenkleid, an diesem Abend strahlte ich und mein Vater war stolz auf mich. 

Von der Terrasse sah man auf den Bosporus: Es war die Zeit der Fischzüge zum Marmarameer, denen nachts die Fischerboote mit ihren kleinen Lampen am Bug folgten. Der große Strom, wie von hunderten von Sternen erleuchtet, schien den Nachthimmel zu spiegeln. Ich hob die Hand wie zu einem letzten Winken.

 In Deutschland war ich nicht zuhause. Nun war ich nirgends mehr zuhause. Von der Türkei war ich getrennt worden, einer Türkei, die ich liebte, aber die ich doch gar nicht kannte, noch nicht einmal die Sprache sprach ich richtig.  Von Deutschland aber war ich wie abgeschnitten, von Deutschland verstand ich inzwischen auch nichts mehr, von der Welt der Heranwachsenden wusste ich nichts, auch ihre Sprache sprach ich nicht.

Ein langer Weg begann.