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Forschungsrahmen

(mit Hinweisen auf die Publikationsliste, PL)

I `Bildungshilfe´ oder `postkolonialer Übergriff´? Zum Stand bisheriger Forschung

Zur Emigration deutschsprachiger Emigranten in die Türkei gibt es zahlreiche Publikationen. So hat bereits Horst Widmann im Jahre 1971 eine Bestandsaufnahme mit Basisdaten der Gruppe vorgelegt. Autobiographien von Emigranten, Biografien, Monografien zu einzelnen Fachgebieten wissenschaftlicher Tätigkeit, Ausstellungen zum Leben im türkischen Exil folgten.  Zusammenfassende Darstellungen boten ein Resümee der Ereignisse und Strukturen der Türkeiemigration. Dabei zeichneten sich Leitlinien der Darstellung ab: Der rassistische Terror gegen jüdische und politisch unerwünschte Personen in Deutschland und später in Österreich ab 1933 führte zu einer Flucht aus dem NS-Herrschaftsbereich. Viele Betroffenen flüchteten in die Türkei.  Die Geschichte dieser Gruppe erfuhr dort eine positive Wende: Die Türkei bot Zuflucht. Zwar war die Türkei kein Einwanderungsland für Flüchtlinge vor nationalsozialistischen Terror. Aber der türkische Staat berief deutsche Akademiker und technische Fachkräfte zum Aufbau der Republik von 1923. Im Mittelpunkt dieser Berufungen standen die Modelleinrichtungen der neuen türkischen Gesellschaft, so wie sie das Regime Kemal Atatürks vorsah: Die Neugestaltung ermöglichte den wirtschaftlichen und politischen Anschluss an das nachkriegliche Europa. Die Vertreter international führender deutscher Wissenschaft waren da willkommene Vermittler eines solchen Angliederung.  Die Emigration aus Deutschland und Österreich war gemäß der türkischen Einwanderungsbestimmungen und der türkischen Berufungspraxis eine akademische Emigration. Doch auch die Familien der Vertriebenen wurden aufgenommen. Insgesamt bot die Türkei mehreren hundert Personen Schutz vor Verfolgung durch das NS-Regime. Und so steht das `Exil Türkei´ im Allgemeinen für positive Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland. 

Bis heute ist deshalb das Thema Bestandteil des deutsch-türkischen Dialogs.  

Die Bewertung des Themas hat sich allerdings im Laufe der Zeit geändert (PL 1.4.(1); 1.10.) 

Die Emigranten selbst  hatten das Land ihrer Zuflucht und ihre Situation in der Türkei meist  mit  kritischem Wohlwollen geschildert und ebenso berichteten die akademischen türkischen  Schüler der Emigranten – zumeist ihre Nachfolger in universitären Positionen – in Dankbarkeit über ihre Lehrer. Darüber hinaus gaben sie aber auch Auskunft über die fachlichen Details der deutsch-türkischen Zusammenarbeit in der türkischen Forschung und Lehre und den Feldern der praktischen Anwendung der Lehrgebiete.   

Jedoch zeichneten sich im Laufe der Berichterstattung Details dieser besonderen Emigrationsgeschichte ab und Widersprüche wurden sichtbar. Es gilt heute als strittig, ob es sich bei dem türkischen Emigrantenprojekt wirklich um eine Erfolgsgeschichte handelt. 

Unter dem Titel `Exil und Bildungshilfe´ hatte Horst Widmann aus der Besetzung Lehrstühle an türkischen Universitäten durch bekannte deutschsprachige Professoren und Künstler wie Paul Hindemith, Bruno Taut oder Fritz Neumark  unmittelbar auf die große Wirksamkeit des Emigrationsprojekts insgesamt geschlossen, obwohl diese selbst zwar ihre Rettung vor nationalsozialistischer Verfolgung priesen, manche  Wissenschaftler wie Alexander Rüstow ihre Ausstrahlungskraft auf die türkische Gesellschaft jedoch durchaus für begrenzt hielten.

Paternalistische Urteile in Bezug auf die Wirkung der Emigranten in der Türkei wurden ab den siebziger Jahren  ohnehin durch einen Paradigmenwechsel  in den Orientwissenschaften infrage gestellt.   Den Orientwissenschaften wurde eine postkoloniale Betrachtung und Behandlung des `Orients´, des `Ostens´ , insgesamt der Länder einer wirtschaftlichen `Peripherie´ unterstellt.  Der autochthone Bedingungsrahmen für historische Ereignisse sollten nun in den Vordergrund der Forschung gerückt werden.

Aus politischen Gründen erhielt auch die türkische Einschätzung des Emigrantenprojekts nach und nach einen anderen Schwerpunkt in dem Maße indem sich der Blick auf die Ära Atatürk und das kemalistische Reformprojekt veränderte. Unter politischer Perspektive der gesellschaftlichen Reislamisierung unterziehen heute führende national-konservative Kreise von Wissenschaft und Politik die Modernisierungsmaßnahmen der Kemalisten einer kritischen Betrachtung.

Hervorgehoben wird nun von türkischer Seite, dass Vertriebene des NS-Regimes in der Türkei Stellen von türkischen Kollegen einnahmen, die ihrerseits vom Regime Atatürks von ihren Stellen vertrieben worden waren. Nicht nur hätten die türkischen Wissenschaftler die Leistungen erbringen können, die von den Emigranten erwartet wurden. Vielmehr hätten die von den Emigranten eingebrachten Innovationen unter den ungewohnten türkischen Bedingungen keineswegs immer Fuß gefasst. Der Wissenschaftstransfer mit Emigranten sei überflüssig, wenn nicht schädlich gewesen, so die schärfste Kritik.  Einige wenige türkischen Wissenschaftshistoriker setzen allerdings auch heute noch eine differenzierte fachliche Sichtung der Emigrantentätigkeit in einzelnen wissenschaftlichen Spezialgebieten mit dem Tenor erfolgreichen Wirkens fort.

Deutsche Publikationen zum sozialhistorischen Aspekt der Türkeiemigration zeichnen heute ein Bild von Gastfreundschaft der Türken aber auch von Akkulturationsschwierigkeiten der Emigranten, von denen schließlich nur wenige in der Türkei geblieben seien. Gegenüber den Chancen, die das türkische Exil bot, wird heute die Betroffenheit der Türkeiemigranten durch die auch in der Türkei anhaltenden Maßnahmen des NS-Regimes betont, die sich unter schwierigen Lebensbedingungen im türkischen Exil behaupten mussten.  

Auch `westliche´ Beurteilungen der Türkeiemigration sehen die die Wirkung der Emigranten im Reformprojekt der Türkei heute als beschränkt an und stellen diesem Emigrationsfall die erfolgreichen Karrieren von Exilanten in den USA gegenüber.

Ist die deutschsprachige Emigration in die Türkei also ein historisches Ereignis, welches letzten Endes mehr oder weniger spurlos an der Türkei vorüberging oder haben die Emigranten in der Türkei zum Aufbau der Republik beigetragen? 

Belege gibt es für beide Positionen.

II  Forschungsgegenstand: Bedingungen der Möglichkeit einer Wirkung der Türkeiemigration  

Die Emigranten waren berufen worden, um ihre Wissenschaftsgebiete und Kunstrichtungen in Lehre und Forschung der Türkei einzubringen und darüber hinaus auch die Anwendungsgebiete in der Gesellschaft zu gestalten.

Die hier jeweils mit Hinweis auf die Publikationen vorgestellte Forschung bemüht sich um eine Vermittlung konträrer Urteile: Untersucht werden die Bedingungen, unter denen die Emigranten in der Türkei gelebt und gearbeitet haben. Daraus ergeben sich unterschiedliche Verlaufsformen der Lebensgeschichte und unterschiedliche Ausrichtung der Arbeit der Emigranten in der Türkei (1.12.; 1.13.; 1.14. (1), (2); 1.16.). Aus den Ergebnissen lässt sich ein Profil unterschiedlicher Wirkungsformen der Emigrantentätigkeit und auch ein Bild unterschiedlicher Beziehungen zum Leben im türkischen Exil erstellen. Die Auswertung der Quellen ist noch nicht abgeschlossen.

Auf im Rahmen der Emigrationsforschung erzielte Resultate kann dabei nur eingeschränkt zurückgegriffen werden. Diese Forschung zu aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflüchteten rassisch  und politisch Verfolgten zentriert sich um Zufluchtsländer wie die USA oder England, deren Aufnahme- und Arbeitsbedingungen sich von denen in  der neugegründeten türkischen Republik unterschieden:  (Vgl. PL 1.8;  1.15.). Die Türkei befand sich erst im Aufbau zur Industrienation mit Anschluss an internationale Märkte und deren länderspezifische kulturelle und wissenschaftliche Infrastruktur. Um die Stellung der Emigranten dort zu beschreiben bedarf es einer umfassenden Analyse der Bedingungen, unter denen die Exilanten in der Türkei lehrten und forschten. 

Leitfragestellung ist, unter welchen Bedingungen die Emigranten in der Türkei ihre Aufgaben dort erfüllt haben.  Vier Bedingungsfelder wurden eruiert:  

II.1 Die historischen Grundlagen der Emigrantenberufungen in der osmanischen Türkei: 

Die türkische Republik hat im Osmanischen Reich eine besondere Vorgeschichte, die sich von der Geschichte der europäischen Staatenbildung unterscheidet. Seit dem 20.Jahrhundert sind Preußen und Österreich und dann Deutschland eng mit dem Osmanischen Reich verbunden. Im Rahmen der politischen europäisch-türkischen Geschichte haben Deutsche und Österreicher, wie auch Angehörige anderer europäischen Staaten seit Langem einen Anteil an der türkisch-osmanischen Wissenschaftsgeschichte. Diese besondere politische Verbindung der Länder beeinflusste die türkische Wissenschaftsgeschichte und die historisch gewachsenen Verfahren im Umgang mit Ausländern nach bewährtem osmanischem Muster bildeten die Grundlage für die Emigrantenberufungen und die Arbeit der Emigranten in der Republik. (Vgl. PL 2.1.; 2.2.; 2.3.; 4; 1.10. (2)). 

II.2 Die Arbeitsbedingungen in der republikanischen Türkei: 

Die türkische Staatengründung war eine Revolution von Oben. Die Umbildung der türkischen Gesellschaft war ein voluntaristischer Akt der führenden Staatselite. Die Reformen bewirkten erst nach und nach eine Umbildung der türkischen Gesellschaft. In diesem Umbruch fanden die Emigranten unterschiedliche infrastrukturelle Bedingungen vor, um ihre Aufgabe zu erfüllen (PL 1.6.). Um an den Einrichtungen ihrer Anstellung einen Wissenschafts- und Technologietransfer zu ermöglichen verrichteten die Emigranten Pionierarbeit (PL 1.8.), je nachdem, wie ein Wissenschaftsgebiet bereits etabliert war bzw. welches gesellschaftliche Umfeld für Forschung und praktische Anwendung eines Fachs bereits vorhanden waren.   Die `Nachhaltigkeit´ eines solchen Unternehmens etwa durch die Ausbildung akademischen türkischen Nachwuchses fiel entsprechend unterschiedlich aus, auch abhängig davon, in welcher Phase des Aufbaus die Emigranten in die Türkei kamen. (PL 1.1.; 1.2.; 1.6. (1). Eine Rolle bei der Breitenwirkung des Emigrantenprojekts spielte auch der Synergieeffekt der Zusammenarbeit der Emigranten, die schließlich in der Türkei fast den gesamten Kanon wissenschaftlicher Spezialgebiete vertraten (PL 1.4.)  

II.3 Die berufliche Vorgeschichte der Emigranten:

Welche Chance bestand, in der Türkei ein Fach erfolgreich zu vertreten, hing allerdings auch von der beruflichen Vorgeschichte der Emigranten selbst ab. (PL 1.12.; 1.13.(2); 1.14; 1.16.) Zum Zeitpunkt der Emigration standen viele von ihnen z.B. als wissenschaftliche Assistenten noch am Beginn ihrer Karriere und nicht alle waren Akademiker. Der türkische Staat berief alle für den Aufbau eines Fachgebiets nötigen Experten vom Hochschulprofessor bis zum Handwerker. Bei der Herstellung der praktischen Grundlagen für Lehre und Forschung und bei der praktischen Anwendung der Spezialfächer kam dem Mittelbau und dem technischen Personal – in der Mehrzahl waren das Frauen – große Bedeutung zu (Pl 1.6.; 1.7.; 1.11; 1.15.). Der türkische Staat hatte die Modelleinrichtungen mit den entsprechenden Planstellen ausgestattet. Ganz entscheidend für die Entwicklung eines Fachs war auch der türkische Mittelbau. Wurden den ausländischen Hochschullehrern türkische Assistenten zugeteilt, die in Deutschland studiert hatten, so sorgten diese für fachkundige Übersetzungen ins Türkische (Pl 1.2.). 

Für den Verlauf einer Emigrationsgeschichte relevant war auch das durch die Emigranten in der Türkei jeweils vertretene Fach bzw. die Arbeitsrichtung der betreffenden Hochschullehrer vor der Emigration. Nicht immer gelang eine Anknüpfung an die autochthone Wissenschaftsentwicklung.

Die hier zu leistende Pionierarbeit setzte eine persönliche Bereitschaft voraus, sich auf die ungewohnten türkischen Verhältnisse einzulassen.  Aber nicht jeder Emigrant wollte das Exilschicksal annehmen. Schließlich hatten nicht alle Emigranten Wahlmöglichkeiten in Bezug auf das Land, dass sie aufnehmen sollte. Fluchthilfeorganisationen bestimmtem die Emigrationswege nach Maßgabe  der Aufnahmebereitschaft der potentiellen Exilländer (PL 3.1.; 3.2.; 3.3.).  

II.4 Der Verlauf der deutsch-türkischen Beziehungen während des II. Weltkriegs: 

Nach dem Tode Kemal Atatürks im Jahre 1938 gewannen oppositionelle Kräfte an Einfluss im kemalistischen Einparteienstaat. Eine ultranationale Wende in der türkischen Innenpolitik führte zu einer Verschärfung der Ausländergesetze und damit auch zur Überprüfung des Emigrantenstatus´ der in der Türkei tätigen Deutschen (PL 1.5.; 1.9.). Diese Überprüfung wurde auch auf die fachlichen Leistungen der Hochschullehrer ausgedehnt. Zugleich versuchte des NS-Regime seinen Einfluss auf die kriegsneutrale Türkei auszubauen und eine Entlassung der inzwischen als Feinde Deutschlands angesehen Emigranten aus den türkischen Stellen zu erreichen. Dieses politische Geschehen veränderte die Lage der Emigranten in der Türkei. Die USA waren das bevorzugte Land einer Weiterwanderung. Die Wirtschaftsbeziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland blieben dabei über politische Krisen hinweg erhalten. PL 1.3.). Aber bis nach dem II. Weltkrieg schützte der türkische Staat die in der Türkei verbleibenden Emigranten vor der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie, auch als die Türkei noch 1945 in den Krieg gegen Deutschland eintrat (Pl  1.17.).

Die diesen Forschungsbereichen zugrunde liegenden Quellen und das Vorgehen zu ihrer Erhebung sind unter `Forschungsbiografie´ zu finden.